Barfuß im Handstand

Life. Love. Sex. Peace. Hate. Sadness. Madness

Der Mensch ist ein psychologisches Kuriosum

Auf Generalprobenbesuch: Die Theatergruppe „Schall & Rauch“ spielt Tschechows „Die Möwe“

Knapp zwei Monate harte Vorbereitung, selbstgezimmerte Requisiten, selbstentworfene Plakate (die übrigens ständig geklaut werden) und ein hochmotiviertes Arbeitsklima: Die versierte Freiburger Theatergruppe Schall & Rauch erhebt heute Abend die Premiere ihrer neuen Produktion Die Möwe nach Anton Tschechow. Geboten wird keine historische Inszenierung, sondern eine dynamische Performance höchster Aktualität.


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Jammern und Schaudern, Heldentod, eben große Dramatik: Die Elemente des klassischen Dramas wollte Tschechow so gut es geht vermeiden. „Ich wollte etwas ganz anderes. Ich wollte einfach und ehrlich sagen: schaut euch an, seht doch, wie schlecht und langweilig ihr euer Leben führt!“ ließ der Großmeister verlauten, nachdem die Uraufführung 1896 zunächst auf viel Ablehnung stieß. Weg von der Rührseligkeit und hin zur humorvollen Groteske (Tschechow setzte wohlüberlegt die Gattung der Komödie unter seinen Titel).

Genau so will es das Regisseur-Duo Jonas Schneider und Lukas Große-Kleimann, die sich technisch und inszenatorisch bestens ergänzen, vermitteln. Die Frage ist, wie kann man eine Identifikation mit dem Zuschauer erreichen, wenn nahezu das ganze Inventar an Protagonisten unsympathische Egomanen sind?

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Durch Abwechslungsreichtum! („Wir brauchen neue Formen!“) Das Publikum sitzt nicht wie gewöhnlich einfach nur vor der Bühne, es ist Teil des Geschehens. Die unsympathischen Charaktere werden vielseitig beleuchtet und teilweise von mehreren Schauspielern in Szene gesetzt. Die Personen stehen im Vordergrund, nicht die Story.

Die Schauplätze des Vierakters sind wie kleine verstreute Inseln im Theaterraum verteilt und nehmen damit die Isolation der hochgetriebenen Individualisten vorweg. Paralleles Spielgeschehen pulsiert authentisch. Die Dialoge um Lethargie, Weltschmerz, den Begriff der Kunst und natürlich Liebe tendieren zu Monologen. Die Sucht nach Ruhm und Glanz in einer Wohlstandsgesellschaft, die der Sinnlosigkeit und dem Schwermut des Lebens zu entfliehen versucht, führt zum Dilemma des Individualisten. Jeder ist so sehr mit sich selbst beschäftigt, hegt große Erwartungen, ist in seinen Problemen derart verhakt, dass er unfähig ist, aus seinem vermeintlichen Unglück herauszutreten („Ich weiß nicht, worin meine Berufung besteht“). Dialogfreie Szenen machen den Eindruck als wäre die Gemeinsamkeit endgültig verschwunden. Reden viel, aber handeln wenig. Der ein oder andere Zuschauer fühlt sich bestimmt ertappt.

Durch „krasse Teamleistung“ und ein Gemisch aus Schöpfungslust und Konzentration, so Regisseur Jonas Schneider, wuchsen der zeitlosen und aktuell oft aufgeführten Möwe Flügel. Man sollte das Chaos überfliegen, für sich und für andere, die vielleicht darunter leiden; mal die Vogelperspektive einnehmen und einsehen wie absurd manch ein hochgetriebener Individualismus doch ist. Wie paradox es doch klingen mag: Die Möwe holt einen mit dieser beflügelnden Inszenierung zurück auf den Boden der Tatsachen. Ein Schauspiel. Eine Inspiration. La grande bellezza.

Die Möwe“ der Theatergruppe Schall & Rauch ist im Theatersaal der alten Uni zu sehen. Karten für den 28. und 29. Juni sowie den 4./5./6. Juli gibt’s bei der Buchhandlung Schwanhäuser.

 

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